Bewertung, Auswahl und Priorisierung sind unausweichliche und spezifische Aufgaben von Gedächtnisinstitutionen. Es ist weder möglich, diesen Vorgang allein den Produzierenden zu überlassen, noch machen technische Fortschritte (Speicherkapazität) die Aufgabe überflüssig. Es ist also weder machbar noch sinnvoll, «alles» für die Ewigkeit aufzubewahren und es sind die Gedächtnisinstitutionen, welche die für das kollektive Gedächtnis konstituierende Funktion der Bewertung übernehmen müssen, mit der sie eine konsistente und relevante Überlieferung ermöglichen.
Worum es geht
Grundsätzlich besitzt jede sammelnde Person oder Organisation ein Sammelgebiet. Eine Sammlungspolitik zeigt explizit auf, welche Unterlagen für die Sammlung in Frage kommen und wie diese wachsen soll. Archive haben einen Zuständigkeitsbereich (Sprengel), aus welchem sie Unterlagen übernehmen. Noch bevor eine eigentliche Bewertung stattfindet, wird so schon bei der Übernahme oder Akquisition eingegrenzt. Die Sammlungspolitik und Bewertungsstrategien sind eng mit dem Auftrag der Organisation verbunden. Es gibt wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen von Gedächtnisinstitutionen wie auch zwischen Behördenarchiven, privaten (Produktions-)Archiven oder Spezialarchiven.
Archive beschäftigen sich schon seit langem mit der Frage, welche Unterlagen zwingend aufzubewahren sind und welche kassiert, d. h. vernichtet, werden können. Durch archivische Bewertung wird der archivwürdige Teil übernommener Unterlagen identifiziert: «Durch den Bewertungsvorgang verwandeln Archivarinnen und Archivare Unterlagen des politischen Prozesses und gesellschaftlichen Lebens in historische Quellen.» (Kretschmar 2005, S. 91) Es geht also um die Identifikation derjenigen AV-Dokumente oder Ensembles von AV-Dokumenten mit bleibendem Wert, welche beispielsweise für die langfristige Erhaltung digitalisiert werden müssen.
Die Begriffe Auswahl oder Selektion werden oft unpräzis mit Bewertung oder Priorisierung synonym verwendet, was zu Missverständnissen führt. Wir schlagen vor, Auswahl/Selektion auf Vorgehen bezüglich Vermittlungsaktivitäten oder Editionsprojekten zu beschränken. Diese haben zwar in der Praxis einen klaren Bezug sowohl zur Frage der Archivwürdigkeit wie auch zur Priorisierung für Erhaltungsmassnahmen, die Fragestellungen und die anzuwendenden Kriterien sind aber nicht identisch.
Während Bewertung ein Ausschlussverfahren ist, welches langfristig aufzubewahrende AV-Dokumente von solchen unterscheidet, welche kassiert werden können, ist Priorisierung dagegen eine nachgelagerte Aufgabe, welche beispielsweise im Zusammenhang eines Digitalisierungsprojekts feststellt, in welcher zeitlichen Abfolge die als erhaltungswürdig identifizierten Dokumente bearbeitet werden. Dabei dienen praktische Fragen wie der Erhaltungszustand, drohende Obsoleszenz, Finanzierungsmöglichkeiten, Nachfrage durch Forschung oder Benutzende als Kriterien, welche bei der Bewertung weniger entscheidend sind.
Zu erwähnen sind auch fachfremde Einflüsse wie ökonomische Zwänge, welche die Bewertung wesentlich beeinflussen können, beispielsweise durch Vorgaben zur Begrenzung der überlieferten Menge und/oder technischen Qualität von z.B. digital archivierter Videos oder Tönen, um Speicherkosten zu sparen.
Archivische Bewertung
Die Archivistik hat verschiedene Methoden der Bewertung entwickelt, die unten näher beschrieben werden. Allgemein anerkannte fachliche Grundsätze der Bewertung sind
-
deren Dokumentation und Begründung, um Transparenz und Nachvollziehbarkeit herzustellen
-
archivübergreifende Überlieferungsbildung in Zusammenarbeit mehrerer Archive zur Vermeidung von Doppelüberlieferungen und gegebenenfalls auch um verteilte Teilüberlieferungen zu identifizieren
-
wenn möglich Beteiligung der Produzierenden am Bewertungsprozess (Huber 2009)
Der archivwissenschaftliche Diskurs zur Bewertung ist fast vollständig auf Schriftakten ausgerichtet, steht stark in der Tradition der staatlichen Überlieferungsbildung und hat bisher wenig Theorie und Praxis zur Bewertung von audiovisuellem Kulturgut hervorgebracht. Ein paar spezifisch auf audiovisuelle Bestände und Sammlungen bezogene Überlegungen sollen deshalb noch ergänzt werden.
Audiovisuelles Kulturgut umfasst nicht nur die audiovisuellen Dokumente selbst, sondern auch Begleitdokumente (Manuskripte, Bandbegleitkarten, Plakate etc.), welche für das Verständnis und die Erhaltung der ersteren unerlässlich sind (Edmondson 2016). Dies bedeutet, dass Begleitmaterialien mit einem audiovisuellen Bestand wenn immer möglich übernommen und gleichzeitig mit den AV-Dokumenten bewertet werden sollten.
Qualitative Bewertung
Die qualitative Bewertung beurteilt die Aussagekraft von Bildern und Tönen für die Bildung einer konsistenten Überlieferung. Die spezifische Bewertungspraxis der Institutionen umfasst meist folgende Kriterien:
-
Wichtigkeit der Produzierenden in Bezug auf das Sammelgebiet.
-
Historische Bedeutung: Werden – unabhängig von der Form – wichtige politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, technische, soziale oder kulturelle Fakten dokumentiert?
-
Soziale Bedeutung: Ist – unabhängig von der Form – eine besondere Aussagekraft bezüglich der Bedeutung der Bilder und Töne in der Gesellschaft enthalten?
-
Alter: Je älter ein AV-Dokument, desto wahrscheinlicher, dass wenig ähnliche Dokumente überliefert wurden.
-
Exemplarität: Besonders typisches Beispiel für bestimmte Arten von AV-Produktionen.
-
Seltenheit: Bezüglich Form und/oder Inhalt seltene («rara») Aufzeichnungen.
Audiovisuelle Archive und insbesondere Rundfunkarchive berücksichtigen über die oben erwähnten Kriterien hinaus
-
Besonderheiten des Produktionskontextes bezüglich Technik, Form, Genre, Inhalten,
-
den Rezeptionskontext, z. B. umstrittene oder prämierte Produktionen,
-
die Repräsentation, z. B. durch systematische Erhaltung ausgewählter ganzer Sendungstage, welche die Programmentwicklung dokumentieren,
-
und v. a. auch den Wiederverwendungswert für neue Produktionen.
-
Über diese konkreten Kriterien hinaus spielen die im Folgenden beschriebenen Kategorien eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des bleibenden Werts von Unterlagen.
Evidenzwert vs. Informationswert
Der Evidenzwert bezeichnet die Aussagekraft von Unterlagen über Abläufe, Entscheide und Verfahren bei der Produktion anhand von formalen Merkmalen (Menne-Hauritz 1918). Er gibt Auskunft über den Produktionskontext von Unterlagen und dient deren Authentifizierung. Ein Möglichkeit für die Bestimmung des Evidenzwerts können z.B. Informationen auf der Rückseite von Fotografien sein. In anderen Fälle, z.B. bei Videos, kann der Evidenzwert häufig nur anhand von Metadaten und Begleitmaterialien ausreichend ermittelt und überliefert werden. Er ist eine Voraussetzung für die wissenschaftliche Auswertbarkeit der Dokumente und damit ein entscheidendes Kriterium archivischer Bewertung.
Der Informationswert dagegen liegt im Inhalt der Dokumente und besteht aus Fakten zu Personen, Orten und Ereignissen, welche eine Aufnahme dokumentiert. Dieses Kriterium ist eng mit dem erwähnten Sammelgebiet verbunden, welches bestimmten inhaltlichen Gebieten den Vorzug gegenüber anderen gibt.
Diese archivtheoretische Unterscheidung hat eine lange Tradition in Behördenarchiven und wurde für schriftliche Unterlagen entwickelt. Für die Anwendung auf audiovisuelle Bestände gibt es bisher wenig Praxis und sie ist auch nicht in für alle Genres geeignet (z. B. Videokunst). Dennoch wird empfohlen, die entsprechende Analyse in Bewertungskonzepte einfliessen zu lassen.
Ästhetischer bzw. intrinsischer Wert
Die Bewertung sollte auch den ästhetischen oder künstlerischen Wert von Dokumenten berücksichtigen. Audiovisuelle Aufzeichnungsverfahren wurden seit ihrer Entstehung als Ausdruckmittel von verschiedenen Kunstformen verwendet. In den späten 1960er Jahren ist Videokunst entstanden, welche heute fest etabliert ist. Bei Dokumenten mit ästhetischem Wert ist ganz besonders auf werkgetreue Überlieferung zu achten. Abgesehen von Ästhetik kann einem audiovisuellen Dokument (z.B. einem Tonband oder einem fotografischen Abzug) als einem physischen Objekt ein intrinsischer Wert innewohnen, der nicht anders als mit dem physischen Original selbst überlieferbar ist. Beispielsweise äusserlich aufwändig gestaltete Träger oder Installationen können nicht allein mit einem Digitalisat der Aufzeichnung und dokumentarischer Beschreibung des physischen Originals überliefert werden.
Quantitative Bewertung
Diese kommt in erster Linie bei gleichförmiger Massenüberlieferung zum Einsatz. Die zu bewertenden Unterlagen sind immer gleich aufgebaut, die Individualität der einzelnen Dokumente ist gering. In einem Rundfunkarchiv würden dazu zum Beispiel die Tagesmitschnitte oder über einen längeren Zeitraum regelmässig produzierte Sendungen gehören, deren inhaltliche Unterschiede vernachlässigbar sind, z. B. Unterhaltungssendungen. Für solche kann es ausreichen, eine systematische, exemplarische Teilmenge zu überliefern, dagegen für Informationssendungen nicht. Neben qualitativen Kriterien, die auch hier angewendet werden sollten (z. B. besonders wichtige Themen, Personen, oder erste/letzte Sendung, wesentlich veränderte Form), können ergänzend auch quantitative Methoden angewendet werden. Eine solche ist die Reduktion anhand einer statistisch signifikanten Zufallsstichprobe, welche auf verschiedene Arten erhoben werden kann. Je grösser die Grundgesamtheit ist, desto kleiner wird der prozentuale Anteil, der für ein statistisch repräsentatives Resultat überliefert werden muss.
Stufenweise Bewertung
Die Archivwissenschaft geht mit ihrer Erschliessungsnorm ISAD (G) von hierarchisch geordneten Beständen aus. Der Bewertungsvorgang kann auf verschiedenen hierarchischen Stufen stattfinden. Die stufenweise Bewertung erlaubt eine gezielte Steuerung der anzuwendenden Methoden, Tiefe und damit des Aufwands.
Stufe |
Umschreibung |
Beispiel |
Archiv |
Institution |
SRF |
Bestand |
Produzierende/abliefernde Stelle |
Nachrichtenredaktion |
Serie |
Sendegefäss |
Tagesschau |
Dossier |
Einzelne Sendung |
Hauptausgabe vom 5.10.2010 |
Dokument |
Einzelne Dokumente |
Sendungsaufzeichnung oder Beitrag, Zuspielungen, schriftliche Unterlagen |
Die Beispiele in der Tabelle beziehen sich auf einen Massenbestand. Die Zuordnung der Stufen könnte auch anders ausgestaltet werden und kleinere Bestände würden in weniger Stufen aufgeteilt. Das Potential stufenweiser Bewertung hängt vom Umfang der zu bewertenden Bestände ab.
Prospektive und retrospektive Bewertung
Bei der prospektiven Bewertung wird aufgrund der vorhandenen Informationen mit qualitativen, quantitativen oder stufenweisen Methoden über das Schicksal von Dokumenten entschieden, bevor sie überhaupt produziert werden. So können von einem bestimmten Radio oder TV-Sendegefäss nicht alle Sendungen überliefert werden, sondern z. B. pro Jahr 5 zufällig ausgewählte Sendungen, um einen repräsentativen Einblick in die Sendungsproduktion zu geben. Die übrigen Sendungen werden nur dann aufbewahrt, wenn sich im Produktionsablauf bzw. im Nachgang zur Sendung Fakten ergeben, die eine Überlieferung einer bestimmten Sendung aus qualitativer Sicht rechtfertigen. Prospektive Bewertung reduziert den Aufwand wesentlich, wodurch Ressourcen für andere wichtige Tätigkeiten frei werden.
Die retrospektive Bewertung war über Jahrzehnte und ist auch heute noch oft der Regelfall. Den Gedächtnisinstitutionen werden grosse Mengen an mehr oder weniger geordneten Dokumenten überlassen und diese müssen anhand unterschiedlich verlässlicher Ablieferungslisten, Bestandesinformationen und anderen Metadaten (häufig am Objekt) eine Bewertung vornehmen. Dieses Vorgehen mag mit Aktenserien noch einigermassen praktikabel sein. Für audiovisuelle Medien, deren Konsultation nur mittels Abspielgeräten und in Echtzeit möglich ist, ist das ohne ein Mindestmass an Metadaten, die bei der Entscheidungsfindung helfen, mit enormem Aufwand verbunden. Nur wenn Informationen wie Titel, Inhalt, Autor, Interpret, Aufnahmetechnik, Original vs. Kopie vorliegen ist es möglich, sich einen Überblick über den Bestand zu verschaffen und Rückschlüsse über den Erhaltungswert zu ziehen.
Bei der retrospektiven Bewertung gibt es keine Gewähr für repräsentative Überlieferung. Wilde Entsorgungs- und Entrümpelungsaktionen sind zu allen Zeiten der Feind sorgfältiger Überlieferungsbildung.
Aktuelle Entwicklungen
Wie in vielen anderen Bereichen werden auch für die Bewertung inzwischen automatisierte Verfahren eingesetzt. Der Einbezug entsprechender Möglichkeiten und insbesondere Potentiale für die Bewertung audiovisueller Bestände sind noch weitgehend unerforscht, sollten aber insbesondere bei grösseren Beständen in Betracht gezogen werden.
Auch partizipatorische Methoden werden vermehrt angewendet und sollten hinsichtlich ihres Potentials geprüft werden; es ist z. B. gut vorstellbar, dass an der Produktion früherer Aufnahmen beteiligte Personen über Informationen verfügen, welche für die Bewertung relevant – aber nicht dokumentiert – sind.
Mit der Nutzung Sozialer Medien werden dieselben Inhalte in verschiedensten, den technischen und praktischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Plattformen angepassten Formen verbreitet und rezipiert. Diese Praxis vergrössert – neben anderen für die Erhaltung relevanten Herausforderungen – die oben genannte Identifikation von Doubletten/Versionen in einem Bestand.
Bibliografie und Links
-
Kretzschmar, Robert: Positionen des Arbeitskreises Archivische Bewertung Im VdA – Verband Deutscher Archivarinnen Und Archivare Zur Archivischen Überlieferungsbildung, in: Der Archivar, 58 (2005), S. 91.
-
Huber, Max: Archivische Bewertung: Aspekte, Probleme, Konjunkturen, in: Arbido, 2009, 8–12
-
Edmondson, Ray: Audiovisual Archiving. Philosophy and Principles, UNESCO, 2016 (dritte Edition)
-
Menne-Haritz, Angelika: Schlüsselbegriffe der Archivterminologie, in: Veröffentlichungen der Archivschule Marburg, 20 (Marburg), Online, Stand: 19.2.2022
Letzte Anpassung: Februar 2022