Home / Empfehlungen Memoriav / All /  6.2 Bewertung von Tondokumenten


Zurück zur Hauptübersicht
< vorherige Seitenächste Seite >

 6.2 Bewertung von Tondokumenten

6.2 Bewertung von Tondokumenten

Priorisierungshilfen

Wenn wir vom Ziel einer konsistenten Überlieferungsbildung ausgehen, sind strukturierte Priorisierungsarbeiten notwendig. Sie sollen dokumentiert sein, um zu gewährleisten, dass auch nachfolgende Generationen nachvollziehen können, welche Dokumente überliefert wurden und welches der Umfang des Gesamtbestandes war. Diese Massnahmen gliedern sich in drei Bereiche: institutionelle Kriterien, technische Kriterien und inhaltliche Kriterien. Sie können miteinander kombiniert werden

Es ist naheliegend, dass Massnahmen zu Erhalt, Sicherung und Zugang zu Tondokumenten in jeder Archiv-Institution an der jeweiligen Sammlungs- und Archivierungspolitik ausgerichtet werden. Bei den technischen Kriterien unterscheiden wir beim Altmaterial zwischen eigenproduziertem und kommerziell vervielfältigtem, das je verschieden behandelt werden kann. Je nach Tonträgertyp entscheiden dann der physische Zustand nach Massgabe des Zerfalls oder die drohende Obsoleszenz bestimmter Techniken, welche Dokumente prioritär zu sichern sind. Sind mehrere Kopien vorhanden, sollte die beste gewählt werden. Inhaltlich handelt es sich oft um umfangreiche Bestände. Sie sind einer globalen Bewertung zu unterziehen. Es sollte dabei versucht werden, ein Konzept zu etablieren, welches eine mehrstufige Segmentierung von grösseren Beständen in inhaltlich konsistente, formal zusammenhängende, Teile zulässt. Es ist auf den Entstehungszusammenhang Rücksicht zu nehmen. Dies bedeutet, dass auch Begleitmaterialien berücksichtigt werden und die Dokumente in ihrem Kontext erkennbar bleiben. Bei rein thematisch orientierten Prioritäten besteht die Gefahr, momentanen Interessen zu unterliegen und den Blick auf das Ganze zu verlieren. Die transparente Bewertung von Beständen erlaubt es, einen mittel- oder langfristigen Aktionsplan festzulegen und die unmittelbar bedrohten Dokumente unverzüglich zu sichern. Was nicht priorisiert wurde, sollte separat aufbewahrt wird.

Waschen von Schallplatten. Foto: Schweizerische Nationalphonothek, Lugano

Bewertung und Auswahl von Tonträgern

Das folgende Kapitel konzentriert sich auf die Bewertung von Radiodokumenten. Allgemeine Ausführungen zur archivischen Bewertung von audiovisuellen Dokumenten finden sich im Kapitel Bewertung, Auswahl und Priorisierung von audiovisuellen Dokumenten.

Bewertung von Radiodokumenten

Im Zusammenhang mit Radiodokumenten sind die Archive von SRG und privaten Radiosendern wichtig. Obwohl die SRG bis 2016 keinen gesetzlichen Archivierungsauftrag hatte, wurden umfang-reiche Ton- und Videoarchive zum Zweck der «Wiederverwertung» angelegt. Bis etwa Ende der 1970er Jahre fielen Entscheide, was archiviert und was vernichtet wird, oft aufgrund persönlicher Kriterien des Redaktionspersonals. Seit den 1980er Jahren wurden dann Abteilungen mit spezialisiertem Personal aufgebaut. Diese haben mit den Programmleitungen Absprachen zur systematischen Bewertung vorgenommen und Kriterienkataloge formuliert. Die Überlieferung der SRG-Eigenproduktionen wurde 2016 mit der erneuerten Radio- und Fernsehverordnung (RTVV) in Art. 33, bzw. im dazugehörigen «Erläuternden Bericht» inzwischen gesetzlich geregelt. Demnach ist die SRG verpflichtet, ihre Eigenproduktionen dauerhaft zu erhalten, «soweit diese als Teil des audiovisuellen Erbes der Schweiz einzustufen sind.» Die SRG arbeitet dabei mit Fachinstitutionen wie Memoriav zusammen.

Die privaten Radioveranstalter sind nicht zur Aufbewahrung der Eigenproduktion verpflichtet, können aber vom Bundesamt für Kommunikation (BAKOM) bei dieser Aufgabe unterstützt werden und arbeiten dabei mit Memoriav und der Schweizerischen Nationalphonothek zusammen (erläuternder Bericht zur RTVV Art. 33a)

Quantitative Bewertung

Die quantitative Bewertung kann bei einer Massenüberlieferung zum Einsatz kommen, wenn die Individualität der Dokumente gering ist. In einem Radioarchiv zählen dazu die Tagesmitschnitte ganzer Programmabschnitte, also auch derjenigen Programme, die nur wenig oder keinem Anteil an Eigenproduktion des Senders aufweisen. Alle Programme von Schweizer Sendern müssen wegen allfälliger Klagen von Gesetzes wegen 4 Monate lang aufbewahrt werden. Danach bleiben sie oft erhalten, weil sie gespeichert sind, auch wenn dies vom Gesetzgeber gar nicht mehr gefordert ist. Allerdings sind sie dann noch nicht archiviert, weil ausser dem Sendedatum meist keine weiterführenden Informationen enthalten sind. Auch sind nicht alle Speicher für die dauerhafte Archivierung geeignet. Für eine Bewertung und anschliessende Auswahl fehlen oft die Ressourcen. Hier könnte eine Teilmenge als exemplarisches Beispiel überliefert werden. Eine der Methoden der Reduktion ist die Zufallsstichprobe oder Stichprobenziehung, wie sie der Verein Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) definiert (s. Infobox).

Stufenweise Bewertung

Der Bewertungsvorgang kann auf verschiedenen Stufen stattfinden. Ausgehend von den Hierarchien des Erschliessungsstandards ISAD(G) (International Standard on Archival Descriptions (General)) sind Bewertungsentscheide auf Stufe Archiv, Bestand, Serie, Dossier oder Dokument möglich. Die folgende Tabelle nimmt das Archiv von SRF als Beispiel:

Hierarchieebene

Umschreibung

Beispiel

Archiv

Institution

SRF

Bestand

Produzierende/abliefernde Stelle

Nachrichtenredaktion

Serie

Sendegefäss

Echo der Zeit

Dossier

Einzelne

Sendung vom 5.10.2010

Dokument

Einzelne Dokumente

Zuspielungen, schriftliches zur Sendung

Im oben erwähnten Beispiel wurden vom Sendegefäss «Echo der Zeit» alle noch vorhanden und alle künftigen Ausgaben als überlieferungswürdig bewertet. Bewertung heisst nicht, dass man zwingend einen Teil kassieren muss, sich aber überlegt, warum man etwas behält oder eben nicht. Seit der Einführung digitaler Sende- und Archivsysteme wird immer mehr behalten. Die Bewertung verschiebt sich damit auf die Frage, was in Datenbanken erschlossen wird und was nicht. Was nicht erschlossen ist, kann kaum mehr gefunden werden und ist damit auch nicht archiviert. Die Bewertung muss nicht nur retrospektiv, sondern kann auch prospektiv gemacht werden. Wenn von einem bestimmten Sendegefäss eine zufällige Auswahl von Sendungen für einen repräsentativen Einblick ausreicht, kann schon im Voraus festgelegt werden, welche überliefert werden sollen. Dies kann nützlich sein, um die Entwicklung des Sendegefässes über die Zeit zu dokumentieren. So lässt sich der Aufwand für die Bewertung vereinfachen und die eingesparte Zeit für die bessere Erschliessung der wichtigen Produktionen eingesetzt werden.

Um eine Bewertung vornehmen zu können, sollten grobe Bestandesinventare vorhanden sein. Nützliche Elemente sind: Titel / AutorIn / InterpretIn / Aufnahmemedium / Original oder Kopie

Diese Grundinformationen erleichtern den Überblick über den Bestand und ermöglichen Rückschlüsse auf den Erhaltungswert.

Bewertungsentscheid dokumentieren

Grundsätzlich sollten alle Bewertungsentscheide mit den angewendeten Kriterien und Überlegungen schriftlich dokumentiert werden. Damit wird nachvollziehbar, welche Annahmen getroffen und warum welche Dokumente ausgewählt und teilweise oder vollständig überliefert wurden. Dies gilt sowohl für Institutionen, die ihre Tondokumente selbst archivieren, als auch für solche welche ihre Bestände zur Langzeitarchivierung an eine Gedächtnisinstitution übergegeben.

Fazit

Die Menge der zu bearbeitenden und zu überliefernden Dokumente kann durch verschiedene Massnahmen reduziert bzw. gesteuert werden. Die Kosten der Datenspeicher sind in den letzten 30 Jahren zwar massiv gefallen, dennoch bleiben die Aufwände für die Langzeitarchivierung von digitalem audiovisuellem Kulturerbe hoch. So sind regelmässige Integritätsprüfung und Konversion der digitalen Daten nötig. Dazu kommt die Katalogisierung der Daten, denn nur erschlossene Daten sind auffindbar. Je kleiner die Dateimenge, desto besser die Katalogisierungsqualität, die für denselben Preis erreicht werden kann.

Die Zufallsstichprobe oder Stichprobenziehung muss mindestens 385 gleichförmige Einheiten (Grundgesamtheit) enthalten: Die klassische Formel mit N = Grundgesamtheit mit einem Konfidenzintervall von 5 % und einer Fehlertoleranz von 5 % lautet:

Bei einer Grundgesamtheit von 600 Einheiten müssen 230.59 also 231 Einheiten überliefert werden, um zu statistisch signifikanten Ergebnissen zu kommen. Die Menge der aufzubewahrenden Einheiten schrumpft um gut zwei Drittel. Je grösser die Grundgesamtheit, desto kleiner wird der prozentuale Anteil, der für ein statistisch relevantes Resultat überliefert werden muss.

Weitere Informationen siehe Papier der Arbeitsgruppe Bewertung des VSA: Stichprobenziehung / Sampling , Stand: 19.2.2022

Bibliografie

  • Breen, Majella, Flam, Gila, et al: Task Force to establish
    Selection. Criteria of Analogue and Digital Audio Contents for Transfer to Data Formats for Preservation Purpose. (Ed.), International Association of Sound and Audiovisual Archives, IASA Editorial Group, Printed in Hungary, 2003, 20 pp.

  • Deggeller, Kurt: «Fragen der Bewertung und Überlieferungsbildung im Bereich audiovisueller Medien». In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. Vol. 51, 2001 (Sonderdruck).

  • Lersch, Edgar: «Zum Stand der Überlieferungsbildung im Bereich audiovisueller Medien». In: info 7 Nr.1, 2001.

  • Hielmcrone, Harald v.: «Selection Criteria for Archiving Radio and Television Programmes – The Danish experience». In: IASA-Journal Nr. 20, Dezember 2002.

Letzte Anpassung: Juli 2021


Zurück zur Hauptübersicht
< vorherige Seitenächste Seite >




Suchen


Index



WordPress Themes